7.12.2012: TARTUFFE — Theaterbesuch mit Diskussion

Was wágt es díe Kanáille nóch sich zú verbéugen?
Die Schaubühne als moralische Anstalt in der Postmoderne

Zu dreizehnt drängten wir uns an diesem Abend schon um den Stammtisch. KollegInnen aus Sprachwissenschaft, Philosophie, Kunstwissenschaft und Informatik diskutierten nach einem brillanten „Tartuffe“ (Regie: Gerd Heinz) mit Hauptdarsteller Werner Rehm, Isabel Berghout, Felix Lohrengel sowie dem Dramaturgen und dem Dramaturgieassistenten.

„Tartuffe, die miese Schlange! Es ist nicht anzublicken;
ich möcht‘ nach vorne rasen, ihn von der Bühne kicken!“

Der Pausenkommentar der Kollegin fasste den Eindruck, den die Inszenierung in großen Teilen des Publikums und auch unserer Gruppe hinterlassen hatte, hervorragend in Worte: Erstens spürten alle einen schwer überwindlichen Drang, im heroischen Alexandriner zu sprechen. Zweitens hassten alle Tartuffe.

Während ersteres angesichts der Eingängigkeit der modernen Übersetzung von Wolfgang Wiens nachvollziehbar war, machte uns der zweite Effekt stutzig. War es doch bemerkenswert, dass bei jeder Heuchelei des Hochstaplers Tartuffe auf der Bühne mindestens eine, meist jedoch mehrere empörte Stimmen aus dem Publikum zu hören waren. Und auch viele aus unserer Runde verspürten den Drang, zu johlen und zu buhen statt zu jubeln, als sich Werner Rehm alias Tartuffe am Ende verbeugte.

Was war geschehen? Waren wir etwa nicht geschult genug, zwischen Realität und Theater zu unterscheiden? Aber das war doch sonst noch nicht passiert! Wieso hatte das Theater auf uns mediengestählte PostmodernistInnen plötzlich wieder einen Effekt, wie es ihn sonst nur im 18. Jahrhundert gegeben hatte? In der Pause und in der Diskussion begaben wir uns auf Erklärungssuche.

Warum löste die Figur Tartuffe distanzlose Hassgefühle beim Publikum aus?

  • Erklärung 1: Struktur des Stückes. Molière versteht es geschickt, eine Identifikation des Publikums mit den Opfern Tartuffes herzustellen; so weiß das Publikum beispielsweise stets mehr als der betroffene Hausherr, Orgon, wodurch ein angestrengtes Mitfühlen und zum Teil der Drang erzeugt wird, ihm „die Augen zu öffnen“.
  • Erklärung 2: Allgemeingültigkeit der Figur Tartuffe. Obwohl sie als Frömmeleikritik angelegt war, kann die Figur relativ universell als negative Projektionsfläche dienen, zumal Tartuffe sämtliche Untugenden von Arroganz bis Geldgier und Wollust abhakt. Seine Handlungen bieten vielfältig Gelegenheit zum Sammeln erquicklicher Lebensweisheiten bzw. zur Bestätigung von Vorurteilen. Eine Auswahl:
        • Fundamentalisten und Moralistinnen und HeuchlerInnen. Tartuffe lässt keine Gelegenheit aus, Wasser zu predigen und Wein zu trinken: „Und Frevel wird es erst, wenn jeder davon spricht, / Wer im Geheimen sündigt, sündigt nicht.“ Denn; „Bei Männern meiner Art / Wird immer höchste Diskretion gewahrt.“
        • „Ich bin ein Haufen Unrat, Schmutz und Dreck“, gesteht Tartuffe Orgon einmal, um dessen Mitleid zu erwecken. Die Lehre: Verdorbene Charaktere haben am wenigsten Hemmung, sich selbst zu geißeln, wie es Goethe später ebenfalls in schöne Worte fasste: „Er hatte zu wenig Kenntnis der Welt, um zu wissen, daß eben ganz leichtsinnige und der Besserung unfähige Menschen sich oft am lebhaftesten anklagen, ihre Fehler mit großer Freimütigkeit bekennen und bereuen, ob sie gleich nicht die mindeste Kraft in sich haben, von dem Wege zurückzutreten, auf den eine übermächtige Natur sie hinreißt.“ (Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch III, Kap. 10)
        • EgoistInnen sind gnadenlos opportunistisch: Sobald es zweckdienlich ist, hängt Tartuffe „sich einen neuen Mantel um / Der Glaube war’s bisher, jetzt ist’s das Bürgertum.“
  • Erklärung 3: Schauspielerische Leistung. Werner Rehm spielt den Tartuffe subtil und ohne demonstrative ironische Distanz. Er bemüht sich nicht um Einverständnis mit dem Publikum durch billiges Augenzwinkern o.ä., sondern spielt den Parvenu als runden und trotz seiner Bilderbuchbösartigkeit plausiblen Charakter. Dennoch befremdet ihn die prämoderne Reaktion des Publikums. Bei einer Vorstellung sei er tatsächlich ausgebuht und ob der Welle des Unmuts froh gewesen, nicht den Franz Moor oder Richard III gespielt zu haben.
  • Erklärung 4: Inszenierung. Die Inszenierung bemüht sich nicht um eine zwanghafte Modernisierung, indem sie Tartuffe etwa als Sektenguru darstellte. Auch verzichtet sie darauf, ihn etwa als Asketen auftreten zu lassen, sondern lässt die Heuchelei bereits durch sein Auftreten offenbar werden. Völlig unklar bleibt zudem die Anziehungskraft, die Tartuffe auf Orgon ausübt – sein attraktiver Teil bleibt ungezeigt, so dass das Publikum ihn mit den Augen der „Aufgeklärten“ sieht und sich umso mehr mit ihnen identifizieren kann.

Der letzte Punkt führte zur Frage an uns, ob wir das Gefühl gehabt hätten, dass die Inszenierung das Stück auf nachvollziehbare Art „nach heute gebracht“ habe.

Aktualität des Stückes und der Inszenierung

Das war, fanden wir, der Fall.

  • In schöner Diskrepanz zur gebundenen Versform steht das vergleichweise offene Ende in der Inszenierung: Die Versöhnungsszene zwischen Vater und Kindern wurde gestrichen, Tartuffe und Orgon bleiben auf der Bühne, während die Familie sich abgrenzt. So verweigert die Inszenierung die simple Deus-ex-machina-Auflösung des Originals, und die symbiotische Beziehung zwischen Betrüger und Opfer bleibt bestehen. Wir diskutierten, ob Orgon dadurch, dass er Tartuffe nicht durchschaut, weniger oder mehr Schuld trägt, und bemerkten, dass dadurch die Verantwortung von der Einzelperson auf die Machtstrukturen selbst verlagert wird: Als „Herr im Hause“ muss Orgon sich nicht entschuldigen – durch den Verlauf des Stückes wird dieses Patriarchat infragegestellt.
  • Tagesaktuell ist auch die Darstellung der Abhängigkeitsverhältnisse (Tochter – Vater, Orgon – Tartuffe) und wie sie durch Zwang und emotionale Nähe bzw. Ideologie aufrechterhalten werden.
  • Wie allein an der Kostümierung und an einem Requisit, einem Kästchen mit Tulpenzwiebeln, abzulesen, wurde die Handlung von Frankreichnach Holland zur Zeit der „Tulpenblase“ im 17. Jahrhundert verlegt; diese weist natürlich Bezüge zur aktuellen Wirtschaftskrise auf; hundertprozentig ‚gezündet‘ hat diese Modernisierung bei uns allerdings nicht und wir hätten sie wohl auch nicht gebraucht.

Weitere Punkte aus der Diskussion

  • Wir fragten, ob es eine Herausforderung gewesen sei, ein gereimtes Stück zu spielen. Die jüngeren SchauspielerInnen hatten zum Teil zum ersten Mal in Versen gespielt. Der Reim biete einerseits ein Gerüst, verleite andererseits aber auch dazu, den Text zu „leiern“. Zudem gerate das Stück aus der Balance, wenn man nur eine Silbe auslasse. Isabel Berghout berichtete, dass es geholfen habe, das Stück wie ein Musikstück aufzufassen, dessen Ton und Takt man treffen müsse. Zudem habe sie den Text zunächst in eigene Worte gefasst, um den Inhalt anschließend in der Reimform angemessen zu transportieren.
  • Über das Bühnenbild – wie immer in den Werkstätten des EDT gebaut und diesmal in beeindruckender Schnelligkeit aufgebaut („Aschenputtel geht bis halb sechs“) – gingen die Meinungen auseinander. Den einen war es nicht visuell genug, die anderen fanden gerade das minimalisitsche Aufklappen und Aufdrehen des immer größer werdenden Raumes eindrücklich, zumal es selbst die wenigen Elemente (im Wesentlichen ein Wandbild und einige Türen) möglich machten, subtile Nuancen ins Spiel zu bringen – ein Türenknallen, ein Abschließen vor der Schlüsselszene.

Jana Tereick